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Vard’han

Erwartung – Realität

Nachdem Tarsus und Galwina, ein Ehepaar aus einer alteingesessenen Garether Schreinerfamilie, sich durch plötzlich massiv ausbleibende Kundschaft von Phexens Segen verlassen sahen, beschlossen sie schweren Herzens nach Beratung mit einem Ingerimm­geweihten ihr Geschäft zu schließen, ihre tragbaren Habseligkeiten mitzunehmen und ihr Glück in einer anderen Stadt zu suchen. Geschichten von einer Stadt weit im Süden trug der Wind zu ihnen. Jeder hätte dort die Chance, sein Schicksal durch Phexens Segen und harte Arbeit selbst in die Hand zu nehmen und sogar in Adelsgefilde aufzusteigen. Ein Schmelztiegel aus Kulturen aller Herren Länder befände sich dort und würde jeden, egal woher, mit offenen Armen empfangen.

Also sammelten sie ihr letztes Erspartes zusammen und so machten sich Tarsus samt Frau und seinen drei Kindern Orestas, Drenor und Bregor auf den langen und beschwerlichen Weg in die reichste Stadt Aventuriens, die Perle des Südens – genannt Al’Anfa.

Vielerlei Gefahren begegneten sie auf dem Weg dorthin; doch diese sollen hier nicht erzählt werden, schließlich kamen sie alle nach zwei Monden wohlbehalten dort an. Bei ihrer Ankunft, erschöpft und ausge­mergelt von der langen Reise, bot sich ihnen ein ganz anderes Bild. Die Straßen seien aus Gold, selbst der armste Bettler trüge noch ein Diamantenring, so die Geschichten. Doch ihnen wurde nur recht unsanft von der Stadtgarde erklärt, sie könnten in der Gosse schlafen. Desillusioniert verbrachten sie ihre ersten Nacht in der Stadt des Geldes auf hartem, feuchten Pflasterboden.

Die nächsten Jahre waren nicht leicht für die Familie. Sie konnten sich jedoch trotz aller Widrigkeiten mit kleineren Reparaturarbeiten in den Slums der Brabaker Baracken über Wasser halten, wo sie die Arbeit gegen Nahrung und Gegenstände des alltäglichen Bedarfs eintauschten. Sie konnten sich sogar eine kleine Hütte mit auf diese Art und Weise zusammengekauften Brettern bauen und im Elend eine kleine Oase beschedenen Luxus‘ schaffen. Ein Jahr nach ihrer Ankunft wurde Galwina sogar schwanger und brachte im Jahr 1009 B.F. einen kleinen Sohn zur Welt, den sie auf den Namen Vard’Han tauften.

Als Vard’Han fünf Götterläufe zählte, wurde das Glück der Familie noch einmal auf eine harte Probe gestellt, denn seine Mutter erkrankte an einer schweren unbekannten Krankheit; und der einzige Quacksalber, den sie sich leisten konnten, war nicht imstande, sie zu retten, sodass sich durch ihren Tod ein finsterer Schleier über die Familie Vard’Hans legte. Fortan erzog Tarsus seine Kinder mit harter aber liebender Hand, und sie wuchsen zu stattlichen Recken heran.

So wuchs Vard’Han unter ärmlichen Verhältnissen in den Slums Al’Anfas auf. Er half zuhause mit seinen Brüdern aus, wo er konnte, doch trotz aller Bemühungen konnte er nicht den tragischen Schicksalsschlag verhindern, den seine Familie an einem heißen Rahjatag im Jahre 1021 B.F. ereilte.

Vard’Han war gerade am Hafen auf der Suche nach Nahrung, als sein Heim von Bluthunden Zornbrechts [skrupellose Sklavenjäger Anm. d. Verf.] überfallen wurde. Als er an diesem Abend nach Hause kam, sah er schon von weitem eine Rauchsäule aufsteigen, die von seinem lichterloh brennenden Heim, seinem Zuhause stammte. Er rannte so schnell er konnte, doch er kam zu spät; Seinen Vater konnte er noch gerade so retten, doch später verstarb er, da er zu viel Rauch einatmete. Die Hütte zu Asche verbrannt, machte er nur drei verkohlte Leichen aus, nicht wissend, dass es drei Sklavenjäger waren; seine Brüder befanden sich bereits in den Händen der Zornbrechts.

Ohne Kenntnis, wer für diese Katastrophe verantwortlich war [nämlich sein Bruder Orestas, der einen ersten unkontrollierten Ausbruch seiner arkanen Kräfte erlebte; Anm. d. Verf.], rannte er den ganzen Abend weinend und verzweifelt durch die Straßen Al’Anfas. Die Umgebung verschwamm unter den Tränen während er durch die Straßen stürmte. Und er rannte und rannte, bis das Licht des Tages sich in die Dämmerung zum Dunkel der Nacht verkehrte und seine Lungen brannten, wie mit Glut gefüllt und er keuchend und schluchzend auf die Knie fiel. Er hockte noch lange im Halbdunkel, bis seine Augen trockneten. Als er sich umsah, wohin er denn in seinem Wahn gerannt war, vernahm er nur ihm unbekannte Strukturen; in diesem Teil der Stadt war er noch nie gewesen.

Im fahlen Licht des Madamals, das gerade aufging, vernahm er die Strukturen reich geschmückter Häuser; Marmor wechselte sich mit silbrig glänzenden Kuppeln ab. Die großen Villen schienen sich gegenseitig in ihrer Detailtreue überbieten zu wollen, denn eines war prächtiger ausgestattet als das andere. Der junge Al’Anfaner bemerkte, dass er an einer Kreuzung kniete, die von einem rautenförmig konstruierten runden Holzgestell umrundet war, das von Rosen umrankt wurde. Als er seinen Blick weiter schweifen ließ, sah er, dass in den Viertelkreisen, die von mit feinem Mosaik gepflastertem Weg und dem Rosengatter geformt wurden, leicht angerundete Marmorbänke standen.

Plötzlich durchfuhr in ein eiskalter Schauder, als er realisierte, dass auf einer dieser Bänke eine Gestalt saß. Es war offenbar ein junger Mann mit langer schwarzer Kutte, sein Gesicht teils von einer Kapuze verhüllt. Am Rand der Kapuze schauten ein paar lange dunkle Haarsträhnen heraus. Die Augen hatten einen ernsten Blick und seine Haut war bleich. Doch irgendwie fühlte Vard’Han, dass ihm von dieser Person keine Gefahr drohte, sie wirkte wie ein alter vertrauter, auch wenn er ihm noch nie begegnet war. Die gestalt musterte ihn noch kurz, dann erhob er sich und sprach mit tiefer sanfter Stimme: „Ich denke, wir haben einander genug gemustert, nicht wahr? Eigentlich sollte hier niemand unbefugtes herumwandern, aber wenn die Garde dich bisher nicht bemerkt hat, bringt es wohl auch nichts, sie nun zu rufen, findest du nicht auch?“ Vard’Han nickte nur verstört und nach einigem Zögern. „Die Höflichkeit gebietet es wohl, dass wir einander vorstellen. Du kannst mich Amir nennen.“ Dabei schritt Amir lächelnd auf ihn zu und reichte dem immernoch auf dem Boden knienden Vard’Han die Hand. Hastig rieb er sich seine dreckigen Handflächen an seinem nicht unbedingt saubereren Lumpen ab und reichte der schmächtigen Gestalt die rechte Hand, die ihm mit einem erstaunlich kräftigen Zug hinaufhalf.

Du hast mir immernoch nicht deinen Namen verraten.“

V-v-v-vard’han“ stammelte ebendieser.

Nun, Vard’Han, ich denke, du solltest mir erzählen, was dich hierherbringt. Lass uns doch dabei ein wenig spazieren gehen. Ich genieße meine freie Zeit immer sehr, und ein kleiner Spaziergang an lauen Sommerabenden lässt einen die eigenen Sorgen immer ein wenig vergessen, findest du nicht?“

Aufbruch

21. Travia 1029 B.F., Hafen von Al’Anfa

 

Es war ein früher Traviamorgen in der Stadt. Die Praiosscheibe würde erst in einer Stunde hinter dem Horizont hervorkommen und das Schwarz der Nacht wich langsam einem Saphirblau. Der Nebel, der sich von den Ausläufern des Flusses Hanfla her über die Stadt wälzte, erweckte den Eindruck eines riesigen, geisthaften Wesens, das die Stadt zu umarmen versuchte.
Obwohl der Dschungel vom Hafen aus noch Meilen entfert war, vernahm man hier erst ein Quäken eines Vogels, dann setzte ein weiterer ein, dann noch einer, bis es nach und nach wie eine Aufführung eines Orchesters anmutete, das durch den Nebel gedämpft bis an die Ohren der wenigen Händler stieß, die langsam begannen, ihre Stände aufzubauen. Die Stadtgarde räumte schon einige über Nacht flüchtig aus ein paar Brettern errichtete Behausungen unter Gepolter, um für den Markt Platz zu schaffen; deren Bewohner hörte man aus der Ferne protestieren, doch nach ein paar dumpfen Schlägen räumten sie wortlos das Feld.
In einer Gasse näherte sich ein Reiter den Hafenanlagen, den der Nebel nur widerwillig freizugeben schien. Das Klickern der Pferdehufe und das leise Schaben von Kettenrüstung auf Stahlplatten, nur leicht gedämpft durch den darüber liegenden, vom Nebel klammen Mantel, mischte sich mit den restlichen Stimmen des Orchesters.
Der Reiter bemerkte die Szenerie am Marktplatz und wenn er darüber nachdachte, dass es ihm und seiner Familie früher ähnlich erging, machte sich in Vard’Han eine Mischung aus Zufriedenheit, Erleichterung und Trauer breit. Zufriedenheit darüber, es in wenigen Götterläufen von einem Straßenjungen aus der niedersten Bevölkerungsschicht zu einem angesehenen Mitglied der Rabengarde und damit der Stadt Al’Anfa geschafft zu haben; Erleichterung, diesem elendigen Dasein endlich entflohen zu sein; und Mitleid mit all den Freunden, die er zurücklassen musste.
Sein Blick schweifte noch ein wenig über die nebelverhüllten Behausungen, die aus der Ferne wie von einem Weißen Seidentuch bedeckte Kisten anmuteten, atmete noch einmal tief durch, sich bewusst, dass er die Stadt, die er so lange seine Heimat nannte, nun für eine lange Zeit nicht wiedersehen würde.
Als der Reiter sich weiter dem großen dunklen Objekt näherte, zeichneten sich immer mehr die Umrisse ab und gleich einem großen Seeungeheuer, das auf ahnungslose Landbewohner wartete, schälte sich eine schwarze Triere der Golgariklasse aus dem Nebel. Ihr großes schwarzes Segel überragte die Hafengebäude knapp und die vielen Ruder, die aus ihrem Rumpf ragten, verliehen ihrdas Aussehen eines Hundertfüßers in Übergröße.
An der Landungsbrücke vernahm Vard’Han zwei Gestalten, die ihm offenbar entgegenschauten. Er steuerte sein Pferd in Ihre Richtung, bis er in ihre nur allzu vertrauten Gesichter blickte. Es waren ein Mann und eine Halbelfin; der erste von beiden in eine schlichte schwarze Kutte gehüllt. Vard’Han sagte nichts, lächelte jedoch beiden kurz zu und nickte Ihnen entgegen, mit dem Mann einen längeren wissenden Blick tauschend.
„Boron mit euch, junger Vard’Han,“ sprach eine weibliche Stimme, die sich als die der Halbelfin Amira Honak, der Kommandantin der Rabengarde entpuppte. „Ich hoffe, ihr seid euch der Wichtigkeit eures Auftrags bewusst. Die … Agenten haben euch sicher schon instruiert. Es ist bereits alles erledigt; die Reisekosten legt euch das Haus Honak aus. Nichtsdestotrotz solltet Ihr euch darauf vorbereiten, die angefallenen Kosten zurückzuerstatten. In anbetracht des Ruhmes, den Ihr vor allem auch in den Augen des Götterfürsten erlangen könnt, ein vergleichbar geringer Aufwand. Eure Kontaktpersonen werden einen dunklen Kragen tragen, auf dem ein mit seidenem Faden ein Stern aufgestickt ist und sich mit der Losung ‚Der Rabe fliegt auch Nachts noch gut‘ zu erkennen geben. Am zielort sucht Ihr die Taverne ‚Zum fetten Schinken‘ auf. Bis ihr dort seid, ist Zurückhaltung das oberste Gebot.“ Sie reichte ihm ein kleines Buch. „Hier habt Ihr eine kleine Lektüre für die Reise, sofern Ihr dazu kommt. Sie wird euch helfen, euch am Zielort zurechtzufinden. Alles gute für euch und möge der Schweigsame eure Schritte lenken und, wenn nötig, verhüllen.“
Er nahm das Buch an sich, nickte nur kurz lächelnd den beiden zu und lenkte die Schritte seines Pferdes auf das Schiff, das auch nur wenige Augenblicke später die Perle des Südens hinter sich ließ. In der Bucht von Al’Anfa vereinte es sich mit einer Flotte von etwa einem Dutzend Schiffen und brach in Richtung Port Corrad auf. Vard’Han ging in Gedanken noch einmal seinen Reiseweg durch, als sich der Himmel von Osten her in ein von Rottönen geprägtes Gemälde verwandelte.
Er würde mit der Triere bis Port Corrad fahren, vorher einen kleinen Zwischenhalt in Port Zornbrecht machen, und die Seidenkaravane ein Stück des Weges nach Mengbilla begleiten. Das wäre der einfachste Teil des Weges, da er sich erstens noch auf dem Gebiet des Rabenpaktes befindet und außerdem die Seidenkaravane die am stärksten Am westlichen Rande Loch Harodrôls entlang würde er über Drôl, Neetha und Methumis auf dem Landweg weiter nach Grangor reisen und dort sollte eine Handelsbarkte ihn mit nach Havena nehmen, von wo aus er über Honingen und Winhall nach Andergast reisen wird. Dort kann besagter Informant namens Travian ihm hoffentlich genauere Hinweise geben.
Dann fiel ihm das Buch wieder ein, das Amira ihm gab und er holte es aus einer Seitentasche seines treuen Pferdes, dem das leichte Schaukeln der Triere nichts auszumachen schien. Das Buch war in mit Wachs getränktes Leinentuch geschlagen. Als er es auspackte, las er den Titel. „Andehrgast fyr den noigirigen Raisenden“ von Traviano di Fellonis. Da er wohl den nächsten Tag auf dem Schiff verbringen würde und nichts zu tun hatte, er kannte sich mit Schiffsverkehr nicht aus, öffnete er den dünnen Einband und begann zu lesen.

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